Doutaz und Fritsche (2005-2007): Windgassen - Welchen Einfluss haben kalte Luftströmungen auf diese waldfreien Streifen im Gebirgswald? (Projekt)
Ziel
Im Herbst 2005 starteten wir eine Untersuchung im Uaul Surrein, mit der wir das von Nicolin Bischoff beschriebene Phänomen der „Windgassen“ - schmale, unbestockte Streifen welche sich von der Waldgrenze in der Falllinie hinunter erstrecken - analysieren wollten. Als Grund für die schlechten Wuchsbedingungen und damit für den baumfreien Charakter der „Windgassen“ werden in der Literatur kalte Luftströmungen und der dadurch verfrachtete Schnee genannt (Bischoff 1987: Pflege des Gebirgswaldes; Ott et al. 1997: Gebirgsnadelwälder). Genauere Aussagen und Belege für diese Vermutung werden nicht geliefert, detaillierte Untersuchungen über die Entstehung solcher Windgassen bzw. die Wirkungen von kalten Luftströmungen auf die Waldverjüngung fehlen. Im Rahmen dieses Experimentes untersuchten wir den Einfluss der Temperatur und der Schneebedeckung auf die potentielle Baum-Verjüngung in den „Windgassen“. Wir wählten eine „Windgasse“ im Uaul Surrein aus, weil die Literatur explizit Windgassen in diesem Gebiet erwähnt (Bischoff 1987: Pflege des Gebirgswaldes, S. 187) und weil uns das gewählte Objekt für unsere Untersuchung geeignet erschien.

Vorgehen
Ab September 2005 haben wir während 21 Monaten mit elektronischen Temperaturmessgeräten (Temperaturlogger) auf 4 verschiedenen Höhenlagen die Temperaturen (eine Messung alle 4 h) gemessen, jeweils in der Mitte und an den Rändern der „Windgasse“, sowie im benachbarten Wald an einem als verjüngungsfähig eingestuften Standort. An jedem der insgesamt 16 Punkte haben wir die Bodentemperatur (0.2 m unter der Bodenoberfläche), die Bodenoberflächentemperatur und die Lufttemperatur (0.8 m über der Bodenoberfläche) gemessen.

Dieses Versuchsdesign erlaubte es uns der Behauptung nachzugehen, dass in den „Windgassen“ kalte Luft hinunterströmt. Ein Vergleich der Messungen in der „Windgasse“ mit denjenigen im Wald sollte zeigen ob diesbezüglich Unterschiede bestehen. Aus den Daten der Temperaturmessung konnten wir zudem für jeden Messstandort das Einschneiungs- und das Ausaperungsdatum und somit die Länge der Vegetationsperiode herleiten.
Resultate
Die untersuchte Bestandesöffnung ist vor mindestens 100 Jahren entstanden, wie die dendrochronologische Analyse es beweisen konnte. Heute sind keine Spuren zu finden, welche auf Lawinenniedergänge hinweisen. Dieses Objekt kann also ohne Vorbehalt als eine der Windgassen, die Bischoff (1987) für dieses Gebiet beschreibt, betrachtet werden.
Aus dem Vergleich mit dem benachbarten Waldbestand geht hervor, dass die Vegetationszusammensetzung (ausser dem Farnanteil), die direkte Strahlung, die mittlere Jahrestemperatur und die mittlere Temperatur während der Vegetationsperiode in der Windgasse nicht signifikant anders sind als im Wald. Hingegen weisen die Messpunkte in der Mitte der Windgasse eine höhere Vegetationsdeckung und eine grössere Vegetationshöhe, einen höheren Öffnungsgrad, eine höhere Sonnenenergie (diffuses und direktes Licht zusammen), eine längere Schneedauer, eine kürzere Vegetationsperiode und eine tiefere Wärmesumme über das ganze Jahr wie auch über die Vegetationsperiode auf. Nennenswert ist die Tatsache, dass trotz höherer Sonnenenergie die Mitte der Windgasse durch eine tiefere Wärmesumme gekennzeichnet ist als die übrigen Messpunkte. Die potentielle Sonnenenergie steht also aus irgendwelchen Gründen den Pflanzen nicht als Wärme zur Verfügung. Dies kann ein Hinweis auf Luftströmungen sein, beruht aber vielleicht auch allein auf die unterschiedliche Strahlungsbilanz zwischen einer offenen Fläche und einer Waldfläche.
In der vorliegenden Studie konnte kein „Killer-Faktor“ herausgefunden werden, der für sich allein die fehlende Verjüngung zu erklären vermag. Mehrere Faktoren dürften sich aber ganz klar negativ auf die Verjüngung auswirken, so z.B. die grössere Vegetationskonkurrenz, die längere Schneedauer, die kürzere Vegetationsperiode und die geringere Wärmesumme. Es kann gut sein, dass die Summe aller dieser negativen Punkte so ungünstige Verhältnisse schafft, dass die Verjüngung kaum noch möglich ist. Die Ursache wäre dann auf einen Faktorenkomplex zurückzuführen, nicht auf einen Einzelfaktor, wie dies eigentlich schon von den „Erfindern“ des unpräzisen und oft zu restriktiv verstandenen Begriffes „Windgasse“ ganz klar erwähnt wurde (siehe z.B. Bischoff 1987).
Weitere, detailliertere Studien über längere Zeitperioden und an verschiedenen Orten müssten die vorliegenden Resultate überprüfen. Die Tatsache, dass heute keine Verjüngung in der Windgasse gefunden wurde, ist kein absoluter Beweis, dass die Verjüngung nicht in der Lage ist, hier aufzukommen. Pflanzungs- oder Saatexperimente würden erlauben, dies zu untersuchen und die Wirkung der einzelnen negativen Faktoren zu quantifizieren. Ausserdem könnten historische Untersuchungen über die Entstehung der Windgassen weitere wichtige Erkenntnisse bringen.
Die Hypothese, dass die Windgasse durch die Anwesenheit von kalten Luftströmungen offen gehalten wird konnte mit dieser Studie weder nachgewiesen noch widerlegt werden. Vielmehr hat unser Versuch alle relevanten Fragen der Verjüngungsökologie im Gebirgswald angesprochen. Somit wird klar, dass sich unter dem Begriff „Windgasse“ ein äusserst komplexes, breites, aber auch spannendes Thema verbirgt.